anatomische Venus
„Anna Krögers Plastik ist Dingkult, Kunstwerk, anatomisches Stillleben und eine Reminiszenz an die Wunderkammern der Spätrenaissance. Leben und Tod, Erotik und Sadismus, Wissenschaftliche Beobachtung und religiöse Ekstase – ein durch und durch hybrides Objekt, das sich weigert, Aufschluss zu geben darüber, was es eigentlich ist. …“
Hildebrand _ Presse _ HfBK Dresden _ 2018
die Anatomische Venus im Kontext der Wunderkammer
Die anatomische Venus im Kontext der Wunderkammer
Verortung
Heiligenfiguren und anatomische Präparate faszinieren ihre Betrachter von jeher.
In den frühen Wunderkammern der Renaissance, wie auch später in den Sammlungen der barocken Fürsten finden sich mannigfache Objekte mit kuriosem Charakter. Dabei stehen oft die „naturalia“ den „artifizialia“ gegenüber. Naturformen, und deren artifizielle Überhöhung in der Wunderkammer weisen dabei ähnliche strukturelle Merkmale auf, wie die menschlichen Überreste, die man in den Kirchen und Klöstern vom Mittelalter bis zur Reformation verehrte. Sie wurden als Reliquien aufbewahrt, und in Reliquiaren künstlerisch überhöht wurden.
Ein kurioses Ding, das Reliquiar
Das Reliquiar ist ein Behälter. Ein künstlicher Gegenstand. Es beherbergt beispielsweise die Überreste eines Heiligen. Dabei übernimmt es laut christlicher Überlieferung mit der Zeit die mystischen Eigenschaften seines natürlichen Inhaltes.
Ab dem 13.Jh gehen vom Reliquiar die gleichen Heilkräfte aus wie von der Reliquie selbst. Und es hat meist die gleiche Form, z.B. die eines Schädels. Gleichzeitig entbehrt es aber der natürlichen Verwendung des Schädels und ist damit, anders als die Reliquie von vornherein bar jedes weltlichen Gebrauchswertes. Dies ist das phänomenale an einem solchen Objekt. Es ist die pure Vergegenständlichte der Andacht und der spirituellen Erwartung an seinen Inhalt. Anfangs nur ein schöner Behälter, avanciert das Reliquiar zu einem Kultgegenstand, dem ab dem Hochmittelalter eine eigenständige mystische Kraft inne wohnt.
Die natürlichen und künstlichen Gegenstände in den fürstlichen Wunderkammern erben ästhetische und mystische Aspekte dieser religiösen Gegenstandspaare. In ihrer Artverwandheit erfährt auch hier ein unerklärlicher Naturfund, durch teilweise bizarre, Ausstaffierung mit wertvollen Materialien wie Gold und Edelsteinen eine dubiose Entrückung aus seinem natürlichen „Ding-Leben“.
Wachs – Kult und Lehre
Die ersten barocken Präparate aus Wachs, die anatomischen Modelle, entstanden in Italien auf ausdrücklichen Wunsch des damaligen Papstes. Und ihre ersten Exemplare stellten Adam und Eva vor. Sie wurden um einen steinernen Seziertisch aufgestellt wie Heilige um einen Altar. Und wie bei einem echten Reliquiar wurden hier menschliche Knochen vom Material des Künstlers – dem Wachs – umfasst.
Die junge Wissenschaft der Anatomie trägt in ihren Anfängen das Erscheinungsbild der Religion.
Meine anatomische Venus befasst sich mit diesem Phänomen. Ich habe dabei auf die Verwendung menschlicher Materialien verzichtet. Stattdessen sind synthetisches Wachs, Pflanzenfasern und Materialien aus dem Theater zum Einsatz gekommen. Diese Venus stellt etwas vor: die Ambivalenz zwischen religiöser Ektase, erotischer Pose und wissenschaftlicher Analyse.
In dem sich die Herstellung von etwas , das „Etwas-Darstellen-soll“ vollzieht und einen eigenen Willen entwickelt, wird die anatomische Werkstatt in der Geschichte unverhofft zum Geburtsort dessen was wir Kunst nennen. Ein Objekt beginnt ein Eigenleben.
Eine Darstellung, ein Gegenstand der eine Aufgabe erfüllen soll, bedient sich der Sprache der Religion und es entsteht alles andere als ein sachliches Exempel. Ein augenscheinlich lebendiger, geöffneter Frauenleib erwidert den Blick des Betrachters und verweist mit dem gestreckten Zeigefinger der linken Hand, in einem typischen Heiligengestus auf Gott.
In diesem konkreten Ereignis-Kontext entsteht etwas Unerhörtes, das einer in diesem Fall wissenschaftlichen Bestrebung entspringt, sich aber noch religiös verpflichten fühlt, und mit dem Ernst einer religiösen Behauptung ans Werk geht. Die neue Wissenschaft bedient sich der alten Bilder in ihrer Formensprache, in Aufteilung und Symmetrie. Sie führt diese damit ad absurdum und kann sie folglich hinter sich lassen.
Das „Ding-Leben“
Hier wird aber eine Frage, der sich die bis dato überkommen geglaubte Wunderkammer der Renaissance stellt, interessant: die Frage nach der Interaktion von Dingen.
Die Objekte in den Schränken und Regalen der Wunderkammern interagieren. Der Nautilus korrespondiert mit einem von Menschenhand bearbeiteten, perfektionierten Artgenossen. Die antike Büste wird in Beziehung gesetzt zum Fossil und dem Mineral, einfach weil alle drei in der Erde gefunden worden sind. Es werden Sinnbezüge hergestellt, die intuitiv und willkürlich wirken und nach einem, aus heutiger Sicht unwissenschaftlichen System erfolgen. Der bearbeitete und unbearbeitete Naturstoff bildet die „artefizialia“ und „naturalia“. Die Beziehung der Naturform auf ihr künstlich überhöhtes Pendant, ähnelt der Beziehung von Reliquien und deren künstliche Überhöhung, dem mit viel Aufwand von Menschenhand geschaffenen Reliquiar.
Von Reliquien und Reliquiaren wurde von jeher erwartet, dass sie zu den Menschen sprechen, Heilung bewirken, und selbst in einem kleinen menschlichen Überrest der ganze Heilig präsent ist.
Was ist vor diesem Hintergrund eine anatomische Venus?
Ist sie ein Reliquiar, ein im Idealbild der Antike überhöhter Behälter, in dem sich der wissenschaftliche Geist als Kondensat niedergeschlagen hat?
Mit dem Rückbezug auf die Wunderkammern der Renaissance, an die der Tisch, auf dem die anatomische Venus liegt, mit seinen vielen Schubladen und merkwürdigen oder kuriose, Inhalten erinnert, nehme ich auf diese Frage nach der Interaktion von Objekten und der Wirkung des Objekts auf den Betrachter Bezug.